- Beschränkungen von Gebetsmahnwachen um Abtreibungsorganisation sind unrechtmäßig – so der Verwaltungsgerichtshof Kassel
- “40-Tage-für-das-Leben“- Gebetsgruppe gewinnt Klage gegen Zensurzone der Stadt Frankfurt
FRANKFURT (21. März 2022) – Die Gebetsversammlung einer 40-Tage-für-das-Leben-Gruppe (Euro Pro Life e.V.) vor einer Pro Familia Einrichtung in Frankfurt sind rechtens – so entschied am Freitag der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Kassel in einem Beschwerdeverfahren. Die Gebetsgruppe hatte wegen rechtswidriger Auflagen der Stadt Frankfurt, die die Versammlung u.a. räumlich bis zur Verunmöglichung des Versammlungszwecks einschränkten, gerichtlichen Schutz in Anspruch genommen. Nachdem die erste Instanz der Gebetsgruppe recht gab, legte die Stadt Frankfurt Beschwerde ein. Nun bestätigte die zweite Instanz die Entscheidung der ersten und wies zutreffend darauf hin, dass “die Rechtsordnung keinen Konfrontationsschutz vor nicht gewünschten anderen Ansichten gewährt”.
„Wir begrüßen die faire und differenzierte Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel, welche die Bedeutung von Meinungs – und Versammlungsfreiheit im öffentlichen Raum betont. Zensurzonen hemmen die Ausübung demokratischer Rechte und den öffentlichen Diskurs. Der friedliche Einsatz für den Schutz des Rechts auf Leben am Ort der eigenen Wahl darf nicht durch räumliche Verdrängung solcher Meinungsäußerungen bekämpft werden, selbst wenn diese bei anderen Unbehagen, Unverständnis oder gar Empörung hervorrufen könnten. So ist die Rechtslage. Angesichts der Vorhaben der Bundesregierung, Menschen zu kriminalisieren, die an friedlichen Gebetsversammlungen in der Nähe von Abtreibungsorganisationen teilnehmen, gibt diese Entscheidung Hoffnung,“ sagte Dr. Felix Böllmann, Rechtsanwalt bei ADF International. Die Menschenrechtsorganisation unterstützt u.a. den Fall von Pavica Vojnović, Leiterin einer 40-Tage-für-das-Leben Gruppen in Pforzheim, in einer ähnlichen Rechtssache.
Hilfsangebot für Hilfesuchende
“Solche Gebetsgruppen wollen Frauen und deren ungeborenen Kindern in einer Konfliktsituation beistehen. Viele Frauen – darunter auch Mitglieder der Gruppe, die gemeinsam mit Pavica Vojnović beten – wurden dadurch bereits ermutigt oder haben die Hilfsangebote dankend angenommen. Sie sind heute glückliche Mütter wunderbarer Kinder. Diese Möglichkeit sollte man weder den Hilfebietenden noch den Hilfesuchenden verwehren,” so Böllmann.
Kein gerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit
Bereits im Dezember hatte das Verwaltungsgericht Frankfurt (erste Instanz) entschieden, dass die von der Stadt Frankfurt verhängten zeitlichen und räumlichen Beschränkungen der Mahnwache rechtswidrig waren. Doch die Stadt Frankfurt ignorierte das Urteil und versuchte erneut, die Versammlung mit Auflagen außer Sicht- und Hörweite der Pro Familia Einrichtung zu verdrängen. Anfang März bestätigte dasselbe Verwaltungsgericht im Eilverfahrenseine früheren Feststellungen. Dagegen legte die Stadt Frankfurt erneut Beschwerde ein. Nun hat die zweite Instanz in Kassel die Entscheidung der ersten Instanz bestätigt.
Der VGH Kassel wies in seinem Beschluss* die pauschale Behauptung der Stadt Frankfurt zurück, dass Frauen, die an der verpflichtenden Abtreibungsberatung im Pro Familia Zentrum teilnehmen, zwangsläufig eingeschüchtert und damit in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt werden.
Der VGH Kassel hielt fest, dass nicht “jegliche unangenehme Empfindung bei der Wahrnehmung der Versammlung deren räumliche Verlegung begründen [kann]. Dies wäre ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.”
Eine Frage des Grades
Das Beschwerdegericht betonte, dass eine Mahnwache unter Umständen das Persönlichkeitsrecht der Frauen verletzen könne. Es handele sich jedoch um eine Frage des Grades, da das Recht auf Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft von großer Bedeutung ist und man Zeit, Ort und Art der Meinungsäußerung grundsätzlich frei wählen kann. Bei der Abwägung der potenziell kollidierenden Rechte kommt es auf eine detaillierte Analyse des Ausmaßes im Einzelfall an (Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Nähe, Möglichkeit, sich abzuwenden/der Konfrontation zu entgehen). Unmissverständlich stellt der VGH Kassel klar: „Nicht jede Wahrnehmbarkeit der Versammlung des Antragstellers durch schwangere Frauen, die die Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchen, stellt bereits eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Insoweit weist das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hin, dass die Rechtsordnung keinen Konfrontationsschutz vor nicht gewünschten anderen Ansichten gewährt […]“.
Nach einer detaillierten Analyse der örtlichen Gegebenheiten, der Entfernung zwischen Mahnwache und Eingang, und des tatsächlichen Verhaltens der Versammlungsteilnehmer, stellte das Gericht fest, dass die Gebetsmahnwache in Frankfurt nicht auf eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Frauen, der Mitarbeiter von Pro Familia, oder Dritter hinausläuft.
Der Fall Pforzheim
Im oben erwähnten Parallelfall hatte Pavica Vojnovic gegen eine Auflage der Stadt Pforzheim, stille und friedliche Gebetsmahnwachen nicht mehr wie bisher in Seh- und Hörweite einer Abtreibungsberatungsstelle halten zu dürfen, geklagt. Nachdem das Verwaltungsgericht Karlsruhe ihre Klage im Mai 2021 jedoch mit zweifelhafter Begründung abwies, beantragte Vojnović die Zulassung zur Berufung beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim. Dieser ließ die Berufung im November 2021 zu. Vojnović, die Leiterin der „40 Tage für das Leben“- Gruppe in Pforzheim, Deutschland, hatte das Verbot unter Berufung auf das Recht auf Religions-, Versammlungs- und Redefreiheit angefochten. Ihrer Gruppe ist es derzeit untersagt, sich in Hör- und Sichtweite einer Pro Familia-Abtreibungsberatungsstelle zum friedlichen Gebet zu versammeln. Experten begrüßten die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim.
„Es ist ermutigend, dass das Gericht die Berechtigung des Anliegens sieht. Wir hoffen, dass es diese Gelegenheit nutzen wird, um die Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit zu wahren. Mit der Abweisung der Klage hat die Vorinstanz diese Rechte als nachrangig klassifiziert, obwohl sie Grundlage jeder freien und fairen Demokratie sind. Dass die Pforzheimer Behörden selbst das stille Gebet in der Nähe der Abtreibungsberatungsstelle verboten hatten, ist nicht verhältnismäßig. Unabhängig davon, ob man Frau Vojnovićs Ansichten inhaltlich teilt oder nicht: Darüber, dass die Grundrechte auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit den Schutz des Grundgesetzes genießen, sollte Einigkeit bestehen“, sagte Böllmann.
Mehr zu Pavica Vojnovićs Fall erfahren sie hier.
*Der Beschluss liegt ADF International vor und kann auf Nachfragen übermittelt werden.
Fotos dürfen im Zusammenhang mit der Berichterstattung zu diesem Fall kostenlos verwendet werden.